Constitutional Assembly
of the Republic of Estonia
z.Hd. Lila Hänni
Chairman of the Redaction Comm.
Lossiplats 1 a
Tallinn (Estonia)
Fax 007 0142 44 98 65
Vorläufige und punktuelle Stellungnahme zum Verfassungsentwurf der Republik Estland (Verfassunggebende Versammlung, Entwurf vom 13. Dezember 1991)
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
der Vorsitzende des Redaktionskomitees der Verfassunggebenden Versammlung, L. Hänni, bat mich, kurzfristig zu dem Estnischen Entwurf vom 13. Dezember 1991 Stellung zu nehmen. Ich komme dieser ehrenvollen Aufforderung gerne nach, weise aber darauf hin, daß ich für die folgende vorläufige Stellungnahme nur wenige Tage Zeit hatte, denn Verfassungsentwurf und Einladungsschreiben vom 19. Dezember 1991 erreichten mich erst am 7. Januar 1992. Darum ist leider nur eine vorläufige und recht punktuelle Stellungnahme möglich.
Vorbemerkung
Der hier zu begutachtende Entwurf entspricht im Gesamtkonzept und in seinen Einzelregelungen den heutigen Standards einer “verfassungsstaatlichen Verfassung”, d.h. eines Typus, der sich im Laufe von Jahrhunderten, insbesondere seit der großen Jahren 1776, 1787, 1789, 1831, 1848, 1945 ff. und im jüngeren “Wachstumsring” der Verfassunggebung, beginnend mit der neuen Verfassung Griechenlands (1975) sowie den Totalrevisionen der Schweizer Kantone, herausgebildet hat. Der Verfassungsstaat ist heute ein “universales Projekt”, das die sog. “Kleinstaaten” und auch Entwicklungsländer zu erobern beginnt und das seit dem Scheitern der totalitären Ostblockstaaten (1989 ff.) neue Impulse zeigt. Jüngste Textstufen und Wachstumsprozesse für einzelne Elemente des Typus “Verfassungsstaat” werden in den KSZE-Erklärungen etwa von Kopenhagen und Paris (1990) greifbar, ältere Wachstumsimpulse haben sich schon früh speziell in Europa ausgeformt (in Gestalt der EMRK von 1950 und mancher Konventionen des Europarates). Der Verfassungsstaat ist zwar in der Entstehung und Entwicklung Ergebnis von US-amerikanischen und europäischen Produktions- und Rezeptionsvorgängen – man kann von einer entsprechenden “Verfassungsfamilie” sprechen –, zugleich bilden sich im Rahmen der Einigungs- und Verfassungsvorgänge in Europa Standards gemeineuropäischen Verfassungsrechts heraus (dazu P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff.), die jedem nationalen Verfassunggeber Orientierungshilfe geben können.
Freilich ist vor Uniformierung zu warnen. Identität und Individualität der einzelnen nationalen Verfassungen müssen bei aller Zugehörigkeit zum Typus Verfassungsstaat als kultureller Errungenschaft par excellence gewahrt bleiben – und auch verfassungstextlich greifbar und für die Bürger erlebbar werden. In den Varianten und “Eigenheiten” bis hin zum “Eigensinn” der nationalen Beispiele des Typus “Verfassungsstaat besitzt dieser einen Grund seiner großen Vitalität und Kraft zu weiteren Entwicklungen. Nach dem sog. “Text-Stufenparadigma” verarbeiten die je neuesten geschriebenen Verfassungstexte einer Nation nicht nur ältere Texte der Nachbarstaaten oder anderer Verfassungsstaaten überhaupt. Sie bringen auch den neuesten Stand der verfassungsgerichtlichen Judikatur, auch des EGMR in Straßburg und des EuGH in Luxemburg, und vor allem auch die Verfassungswirklichkeit und Verfassungslehre auf Begriffe und Texte. Darum kann die Redaktion der je neuen Texte der jüngsten Entwicklungsstufe eines Verfassungsstaates mit neuer oder teiloder totalrevidierter Verfassungen (wie in den Schweizer Kantonen seit den 60er Jahren) gar nicht genau und sensibel genug sein.
Freilich bleibt der Vorbehalt der Relevanz des kulturellen Kontextes: Letztlich prägen sie das Verständnis und die Auslegung des jeweiligen Verfassungsstaates mit. Insoweit steckt ein relativierendes Moment in der je individuellen Geschichte der einzelnen Nationen, in die die Verfassungstexte eingebettet sind und dank derer sie mindestens mittelfristig unterschiedliche Bedeutungsinhalte gewinnen können.
“Reservoir” der folgenden Stellungnahme ist das Ensemble von Texten, das sich einerseits in neueren Verfassungen und Verfassungsentwürfen in West und Ost, innerhalb und außerhalb Europas findet (teildokumentiert im Jahrbuch des öffentlichen Rechts, hrsg. vom Unterzeichneten), hinzu kommen die erwähnten KSZE-, EMRK- bzw. Europarats-Texte; andererseits wird die Weiterentwicklung dieser Texte in Gestalt der Verfassungs- und internationalen Gerichtshöfe, aber auch in Form von Spitzenwerken der jeweiligen nationalen Staatsrechtslehrer mit im Blick behalten. Bei beidem hilft die zu beobachtende “Europäisierung” der nationalen Verfassungsgerichte und nationalen Staatsrechtslehren (dazu P. Häberle, Im Dienste der “Europäisierung Europas”, Neue Zürcher Zeitung vom 7./8.12.1991, S. 25).
I. Überlegungen zur Präambelkultur und Präambelstruktur sowie zu Allgemeinen Eingangsbestimmungen
1) Präambeln zu Verfassungen sind durch drei Eigenarten gekennzeichnet: sie wollen den Bürger in “Feiertagssprache fast wie eine “Ouvertüre” auf das nachfolgende Verfassungswerk “einstimmen”, sie verarbeiten oft die jeweilige Verfassungs- bzw. nationale Geschichte eines Volkes (neu) und sie legen sich – fast bekenntnishaft – auf bestimmte Grundwerte (“Verfassung in der Verfassung”) und auf Ziele für die Zukunft (z.B. “Schutz künftiger Generationen”) fest. Sowohl Verfassungen der älteren Entwicklungsstufe (z.B. das deutsche Grundgesetz von 1949) als auch neuere Beispiele (besonders geglückt: Verf. Spanien von 1978), aber auch ältere Menschenrechtserklärungen (besonders reichhaltig EMRK-Präambel von 1950) haben eine differenzierte Präambelkultur entwickelt. Mitunter fehlt freilich in einzelnen neueren Verfassungen auch die Präambel (so Verf. Niederlande von 1983), oder aber zwei konkurrierende Entwürfe aus demselben Land haben eine Präambel (so Verfassungsentwurf des polnischen Senats in Warschau 1991) oder sie entscheiden sich gerade gegen eine Präambel (so der Entwurf des polnischen Sejm, 1991). Im Osteuropa von heute sind die Beispiele in diesem Punkte zwiespältig: Der jüngste Verfassungsentwurf von Bulgarien (vom 12. Juli 1991) und Rumänien (vom 21. November 1991) hat keine Präambel, der Verfassungsentwurf Kroatien (von 1991) besitzt eine sehr umfangreiche, fast barock überladene Präambel.
M.E. ist aus den genannten Gründen, d.h. wegen der drei Funktionen der Verfassungspräambeln für eine substantiell gestaltete, feierliche, aber knappe Präambel zu votieren. Der Verfassungsentwurf Estland hat die richtige Mitte in Sprachform, Verarbeitung von Verfassungsgeschichte, Bekenntnis zu heutigen Grundwerten und Entwürfen für die Zukunft schon gefunden. Erlaubt sei nur der Vorschlag einer kleinen Ergänzung: Es stellt sich m.E. die Frage, ob sich Estland nicht noch auf mehr helle Punkte seiner (Verfassungs)Geschichte gerade in der Präambel berufen sollte: nicht nur (wie geschehen) auf seinen demokratischen Selbstbestimmungsvorgang vom 24. Februar 1918, sondern auch ganz gezielt auf seine vom Volk gebilligten Verfassungen von 1920, 1933 und 1937. Das wäre ein Stück kultureller Identitätsgewinnung und nationaler Selbstvergewisserung.
Erster Vorschlag: Präambel-Zusatz: “and founded (or supported) by the Constitutions of 1920, 1933 and 1937, approved by the people…“.
Präambeln sollten ein Stück der “Essenz” des folgenden Verfassungstextes enthalten, gleichsam “leitmotivisch” arbeiten. Das ist Estland in seinem Entwurf vom Dezember 1991 weithin geglückt (“founded on justice, law and liberty”). Zu erwägen wäre eine Konkretisierung im Blick auf die (universalen) Menschenrechte, wie sie dann Art. 45 des Entwurfs doch voraussetzt in den Worten: “universally recognized human rights”). Diese späte Plazierung scheint mir etwas zu blaß zu sein. Man könnte als Präambel-Element zusätzlich einbauen: das Bekenntnis zu Grund- und Menschenrechten (so in der Präambel der EMRK von 1950) sowie besonders geglückt in der Kantonsverfassung Jura von 1977: “Le peuple jurassien s’inspire de la Déclaration des droits de l’homme de 1789, de la Déclaration universelle des Nation unies proclamée en 1948 et de la Convention européene des droits de l’homme de 1950”)
Zweiter Vorschlag daher: Präambelzusatz: “und im Bekenntnis zu den (universalen) Menschenrechten…“
Präambeln sollen (und können) eine Orientierung für die Zukunft geben und insofern neue spezifische Horizonte entwerfen. In Übereinstimmung mit vielen neueren Verfassungen hat der Entwurf Estlands die Zukunftsdimension in den Worten “future generations” angedeutet: Die Frage ist, ob das Ziel der “Rückkehr nach Europa” bzw. der Orientierung nach Europa nicht ausdrücklich normiert werden könnte:
Dritter Vorschlag: Präambelzusatz: “…im Blick auf ein vereintes Europa…“
(Fortsetzung folgt)
Mit besten Grüßen
Professor Dr. Peter Häberle
09.01.92/wa.
und Hochschule St. Gallen
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Fortsetzung meines Schreibens vom 8.1.1992 in Sachen
Vorläufige und punktuelle Stellungnahme zum Verfassungsentwurf der Republik Estland
2) Ein Wort zu den Allgemeinen Bestimmungen (“General Provisions”).
Rechtsvergleichend betrachtet, stehen die Präambeln und die allgemeinen Eingangsbestimmungen einer Verfassungsurkunde in einem begrenzten Austauschverhältnis zueinander, d. h. manche Themen werden bald in der Präambel, bald in den Grundsatzbestimmungen normiert. So beruft sich z. B. die Präambel der Verf. Spanien von 1978 auf den “Rechtsstaat” und die Menschenrechte, während das deutsche Grundgesetz von 1949 in Art. 1 Abs. 2 den anspruchsvollen Satz formuliert: “Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder (!) menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt”. Im übrigen beinhalten die ersten Artikel vieler Verfassungen die grundlegenden Aussagen (z. B. zu den Staatszielen) und vor allem sog. “Symbolartikel” über Wappen, Flagge, Hymne, Staatssprache sowie die Hauptstadt, oft auch das Staatsgebiet.
Miẞt man die Art. 1 bis 8 Verfassungsentwurf Estland an diesem verfassungsstaatlich typischen Themen- und Problemkatalog, so ergibt sich folgendes:
Zu erwägen ist die Aufnahme des Prinzips “Rechtsstaat“, z. B. in Art. 1. Dieser Begriff setzt seinen Siegeszug rund um die Welt begrifflich wie verfassungstextlich auch heute fort. So bestimmt Art. 1 Verfassungsentwurf des Sejm Polens von 1991: “democratic state of law following the principles of social justice”. So sagt Art. 2 Abs. 1 Verf. Portugal von 1976/82: “Die Republik Portugal ist ein demokratischer Rechtsstaat auf der Grundlage der Volksherrschaft, des demokratischen Pluralismus…”; so bestimmt § 2 der Schweizer Kantonsverfassung Aargau von 1980: “Volk und Behörden richten ihr Handeln am Rechte aus…”. Die Bezugnahme auf die (Volks)Souveränität in Art. 1 Abs. 1 und 2 des Entwurfs bedarf m. E. dieser Normativierung von der Idee des Rechtsstaats her.
Daher lautet mein vierter Vorschlag: Zusatz in Art. 1: “Estonia is a democratic state of law.”
(Der Verfassungentwurf Bulgariens vom 12. Juli 1991 spricht sowohl in seiner Präambel als auch in Art. 4 Abs. 1 von “Etat de droit”.)
Manche neueren Verfassungsurkunden bauen überdies in ihren Grundsatzbestimmungen Bezugnahmen auf den politischen Pluralismus ein. Solche Pluralismus-Klauseln finden sich typischerweise in Verfassungen, die ein totalitäres Regime beendet haben: So normiert Art. 1 Abs. 1 Verf. Spanien von 1978:
“Spanien konstituiert sich als demokratischer und sozialer Rechtsstaat und bekennt sich zu Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischen Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung”.
Die innovationsfreudige Verfassung Portugals von 1976/82 beruft sich in Art. 2 auf den “demokratischen Pluralismus”. Gerade die Distanzierung von autoritären, bzw. totalitären Regimen legt solche Pluralismus-Klauseln nahe, sie werden dann oft noch später in ganz konkretem Zusammenhang gebraucht: bei der inneren Strukturierung der Massenmedien Rundfunk und Fernsehen.
Mein fünfter Vorschlag lautet: (als Art. 3 Abs. 3): “Estland bekennt sich zum politischen Pluralismus als Grundwert seiner Verfassung.”
(Hinweis: Art. 11 Abs. 1 Verfassungsentwurf Bulgariens lautet: “La vie politique en Republique de Bulgarie est fondée sur les principes de pluralisme politique.”)
Zu den Grundsatzbestimmungen am Anfang der Verfassungsurkunde können auch Normen wie Art. 3 Abs. 3 Verfassungsentwurf Estland gezählt werden (“Generally recognized norms …”). Diese “Völkerrechtsfreundlichkeit ist ein Kennzeichen moderner Demokratien als “kooperative, offene Verfassungsstaaten”. Sie öffnen sich den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, wie sie im Internationalen- und Europarecht entwickelt worden sind. Besondere Zustimmung daher zu Art. 3 Abs. 3, mit dem Zusatz vielleicht, daß im Konfliktfall die allgemeinen Rechtsgrundsätze des internationalen Rechts vorgehen. (Weiterentwicklung des Gedankens von Art. 101 Verf. Peru von 1979: “Die von Peru mit anderen Staaten abgeschlossenen Verträge sind Bestandteile des nationalen Rechts. Im Falle eines Konfliktes zwischen Vertrag und Gesetz geht ersterer vor”. Auf eine Weise noch weitergehend ist Art. 46 Verf. Guatemala von 1985: “Es gilt das generelle Prinzip, daß auf dem Gebiete der Menschenrechte internationale Verträge und Konventionen, soweit sie durch Guatemala ratifiziert worden sind, Vorrang vor dem nationalen Recht haben”.)
Typisch sind auch Sprachen-Artikel. Art. 7 des Entwurfs legt sich ganz auf die eine Staatssprache “estisch” (“Estonian”) fest. Die Frage ist jedoch, ob gerade Estland, das eine große Tradition des Minderheitenschutzes hat, an dieser Stelle einen Verweis auf Sprachen ethnischer Minderheiten vornehmen könnte, wie dies in Art. 28 und 29 des Entwurfs geglückt ist. Das Schweizer Bundesgericht hat in langen Jahren viele Differenzierungskriterien zur “Staatssprache” entwickelt. Den derzeit besten Text findet man in Abschnitt 68 Verf. Ungarn von 1949/89:
“(1) Die in der Republik Ungarn lebenden nationalen und sprachlichen Minderheiten sind an der Macht des Volkes beteiligt: Sie sind staatsbildende Faktoren.
(2) In der Republik Ungarn wird den nationalen und sprachlichen Minderheiten Schutz gewährt. Sie haben das Recht, sich am öffentlichen Leben gemeinschaftlich zu beteiligen, ihre eigene Kultur zu pflegen, ihre Muttersprache zu gebrauchen, den Unterricht in ihrer Muttersprache zu genießen und ihre Namen in der eigenen Sprache zu führen”.
Die neue Verfassung des deutschen Bundeslandes Schleswig-Holstein hat eine gelungene Minderheitenschutz-Klausel entwickelt in Art. 5:
“Abs. 1: Das Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit ist frei, es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten.
Abs. 2: Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Die nationale dänische und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung”.
In der KSZE-Erklärung von Kopenhagen (1990) heißt es:
“Die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit ist eine Angelegenheit der persönlichen Entwicklung eines Menschen, und darf als solche für ihn keinen Nachteil mit sich bringen”.
Einen frühen “Klassikertext” in Sachen Minderheitenschutz stellt der ruhmvolle Passus in Estlands Verfassung von 1920 dar:
“Den nationalen Minderheiten ist der Unterricht in der Muttersprache garantiert …”
Dieser hohe kulturelle Status quo von 1920 sollte nicht unterschritten werden.
An all diese Textmaterialien sei hier nur als “Fundgrube” erinnert. Jede neue Verfassungsurkunde unserer Tage kann – und sollte – sich hiervon die besten Elemente heraussuchen, wie es dem Selbstverständnis des jeweiligen Volkes und seiner sich entwickelnden politischen Kultur angemessen ist. Ob man schon in den Grundlagennormen oder erst im Grundrechtsteil den Minderheitenschutz regelt (so Art. 28 und 29 des Entwurfs von Estland), ist eine eher sekundäre Frage. Hauptsache ist nur, daß das Problem als solches erkannt wird. Es gehört heute zum “politisch Wichtigen” eines Verfassungsstaates, d. h. zu den Regelungsmaterien seiner geschriebenen Verfassungsurkunde. Etwas zu schwach und blaß heißt es in Art. 9 Vorläufige Verfassung Litauens (1990): “Conditions shall be created for the use and development of the languages of ethnic minorities”.
Zu den fast schon klassischen Bestandteilen einleitender Grundsatzbestimmungen in Verfassungsurkunden zählt die Kategorie der von mir so genannten “Symbol-Artikel“. Beispiele sind Aussagen über Wappen, Embleme, Flaggen, auch die Hauptstadt, mitunter Feiertage. Hierher gehört aber auch ein Verfassungstext, der die Staatshymne festlegt. Gerade in den so musikalischen Baltenländern liegt dies nahe, nicht zuletzt auf dem Hintergrund der “singenden Revolution” von 1989.
Mein sechster Vorschlag lautet daher: Ergänzung von Art. 8 des estnischen Entwurfs von 1991 um den Zusatz: “Nationalhymne ist …“.
Beispiele gibt es schon: vgl. Art. 11 Abs. 2 Verfassungsentwurf des polnischen Sejm von 1991: “Dabrowski’s Mazurka shall be the national anthem of the Republic of Poland”. So auch Art. 9 Abs. 3 Verfassungsentwurf des polnischen Senats (1991): “L’hymne national de la République Polonaise est la Mazurka de Dabrowski.” Auch Art. 12 Abs. 3 des Verfassungsentwurfs Rumänien vom November 1991 legt sich auf eine nationale Hymne fest. Die Verfassung Frankreichs von 1958 bestimmt in Art. 2 die “Marseillaise” zur Nationalhymne.
Hymnen sollten als emotionale Integrationsfaktoren eines Volkes nicht unterschätzt werden. Sie sind fast “natürliche” – und zugleich kulturelle – Themen einer verfassungsstaatlichen Verfassung.
Damit sind die wesentlichen Themen für die “Allgemeinen Bestimmungen” erfaßt. Gewiß, man könnte weitere Themen systematisch an dieser frühen Stelle der Verfassungsurkunde plazieren, etwa einen Parteien-Artikel (wie Art. 4 Verfassung Frankreich von 1958 oder eine Grundrechtsverwirklichungs-Klausel wie Art. 3 Verf. Italien von 1947 oder Art. 9 Abs. 2 Verfassung Spanien von 1978 sowie Art. 7 Verfassungsentwurf Polens (Senat) von 1991). Meines Erachtens sollten aber die Allgemeinen Bestimmungen weder thematisch noch textlich überlastet werden. Estland hat in seinem Entwurf von 1991 auch hier einen guten mittleren Weg gefunden – vielleicht zu ergänzen um den einen oder anderen hier unterbreiteten Vorschlag.
(Fortsetzung folgt möglichst morgen)
Mit besten Grüßen
gez. Prof. Dr. Peter Häberle
10.01.92/wa
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Fortsetzung der Stellungnahme zum Verfassungsentwurf Estlands (1991)
II. Grund- und Menschenrechte
Vorbemerkung
Grund- und Menschenrechtskataloge bilden – gerade nach der Überwindung des Marxismus-Leninismus – das Herzstück freiheitlicher Demokratien. Speziell in Europa kommt hinzu, daß die Rechtsprechung des EGMR in Straßburg auf der Basis der EMRK von 1950 und daß der EuGH in Luxemburg in seinem prätorischen Verständnis der Grundrechte der Mitgliedstaaten als “allgemeine Rechtsgrundsätze”, aber auch die nationalen Verfassungsgerichte (besonders Italiens und Deutschlands, auch der Schweiz) eine ungemein differenzierte Grundrechtskultur aufgebaut haben. Nicht nur die allgemeinen Grundrechtslehren verfeinern sich immer weiter (etwa die Lehre von der “Drittwirkung” oder vom Teilhabecharakter von Grundrechten), auch die Grundrechtsthemen im individuellen Schutzbereich nehmen zu (so in Gestalt des sog. Grundrechtes auf “informationelle Selbstbestimmung”, des besonderen Schutzes der Behinderten, des Anspruchs auf eine gesunde Umwelt u. ä.). Bei jeder neuen “Kodifikation” der Grund- und Menschenrechte sind verfassungspolitisch mehrere Gesichtspunkte zu beachten: Die Formulierungen müssen möglichst bürgernah, verständlich und prägnant sein, sie dürfen nicht in allzu spezieller juristischer Fachsprache normiert werden; gleichwohl sollten sie sich in den hochdifferenzierten Kanon der Standards einfügen, den die internationalen, regionalen und nationalen Menschenrechtserklärungen nicht nur in Europa in langer Zeit bis heute entwickelt haben. Einerseits sollten die Menschenrechte als “universale Prinzipien” erkennbar werden, die sie seit 1789 sein wollen, andererseits sollte die einzelne Nation auch im Grundrechtskatalog ihre spezifischen Besonderheiten, ihre Erfahrungen, Wünsche und Hoffnungen, aber auch ihre Gefährdungen, Wunden und Verletzlichkeiten zum Ausdruck bringen. Es gibt heute schon einen durch den Rechtsvergleich in der historischen und zeitgenössischen Dimension nachweisbaren Schatz von “Regeln” oder Prinzipien, einen Problemkatalog, “wie man einen Grundrechtskatalog schreibt”. Diese Handwerks-, ja “Kunstregeln” können hier nicht im einzelnen dargestellt werden: angesichts der dem Unterzeichneten zur Verfügung stehenden kurzen Zeitspanne (3 Tage!) lassen sich nur einige Problembereiche herausgreifen.
1) Fragen der Grundrechte – Allgemeiner Teil (Auswahl)
Der sehr umfangreiche Katalog des Entwurfs Estlands (Art. 9 bis 45) entspricht in weiten Teilen den “gemeineuropäischen Standards” in Sachen Menschenrechte. Nur da und dort seien einige Anregungen zur Diskussion gestellt.
Es empfiehlt sich, die Kapitel zur Garantie von Grundrechten durch eine ausdrückliche Menschenwürde-Klausel zu eröffnen. Die Menschenwürde i. S. von I. Kant verstanden, ist heute kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates, die Staatsform der Demokratie bildet ihre organisatorische Konsequenz. Viele neuere Texte stellen sie entsprechend groß voran: So schon die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948 (“Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde …”), so Art. 1 Verf. Portugal von 1976/82 (“Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet…”), so Art. 10 Abs. 1 Verf. Spanien von 1978 (“Die Würde des Menschen, die unverletzlichen Rechte, die ihr innewohnen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit … sind die Grundlage der politischen Ordnung und des sozialen Friedens…”). Besonders viel Ausstrahlung entfaltete Art. 1 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes: “Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt (Einzelheiten der Judikatur in P. Häberle, Menschenwürde, Handbuch des Staatsrechts Bd I (1987), S. 815 ff.).
Siebter Vorschlag daher: Zusatz in Art. 9 Abs. 1 als Satz 2: “Human dignity is inviolable“.
(Hinweis: Art. 4 Abs. 1 des Schweizer Privatentwurfs Kölz/Müller von 1984/90 lautet: “Die Würde jedes Menschen ist zu achten und zu schützen”.)
Eine solche Menschenwürde-Klausel kann auch als “Auffangtatbestand” für neue, noch unbekannte Gefährdungen individueller Freiheit dienen und sie eröffnet der späteren Estnischen Rechtsprechung den unmittelbaren Zugriff auf die Verfassungsgehalte, die in den europäischen Ländern bisher dem Begriff “Menschenwürde” zugeordnet worden sind.
Meisterhaft erscheint mir Art. 42 des Verfassungsentwurfs. Er öffnet sich über den geschriebenen Grundrechtstext hinaus neuen Schutzgarantien in den Worten “other rights, liberties and duties which are in the spirit of the Constitution, or in concordance with it.”
Damit setzt sich Estland an die Spitze einer Entwicklung, die sich in anderen neuen Verfassungstexten jüngst abzeichnet. Zitiert sei vor allem Art. 4 Verfassung Peru von 1979 (ähnlich Art. 44 Abs. 1 Verfassung Guatemala von 1985). Er lautet:
“Die Aufzählung der in diesem Kapitel anerkannten Rechte schließt nicht die sonstigen von der Verfassung garantierten Rechte und auch nicht andere, die vergleichbarer Natur sind oder aus der Würde des Menschen, dem Prinzip der Volkssouveränität, dem sozialen und demokratischen Rechtsstaat und der republikanischen Regierungsform folgen, aus.”
Der Verfassungsentwurf Estlands hat jetzt in Art. 42 eine Abstraktion vorgenommen und sich allgemein auf den “Geist” der Verfassung berufen, um der prätorischen Entwicklung zusätzlicher Grundrechte in der Zukunft Raum zu geben. Solche “Geist-Klauseln” finden sich in anderem Zusammenhang schon in bisherigen Texten anderer Länder. Neu ist aber die Normierung einer “Geist-Klausel” zugunsten von (ungeschriebenen) Grundrechten! Art. 42 sollte unbedingt beibehalten werden. Angeregt sei allenfalls eine Ergänzung und Präzisierung:
Achter Vorschlag daher: Anreicherung von Art. 42 wie folgt: “die im Geiste der Verfassung liegen, insbesondere der Menschenwürde, dem sozialen und demokratischen Rechtsstaat und dem Kulturstaatsprinzip entsprechen”.
Es fällt auf, daß der Verfassungsentwurf keinen Schutz des “Wesensgehalts der Grundrechte” normiert. Ganz anders sehen viele ältere und neuere Verfassungstexte vor, auch die zu einer ungeschriebenen Wesensgehaltklausel gelangte Rechtsprechung des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs, des Schweizer Bundesgerichts und des EuGH in Luxemburg (Fall Liselotte Hauer) (alles nachgewiesen in P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 257 ff.). Das deutsche GG sagt in Art. 19 Abs. 2 GG: “In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden”. Ähnliches findet sich in Art. 53 Abs. 1 S. 3 Verf. Spanien von 1978 sowie in Art. 18 Abs. 3 Verf. Portugal von 1976/82. In der Schweiz setzt sich in so mancher totalrevidierten Kantonsverfassung dieser Wesensgehaltschutz ebenfalls durch (vgl. Art. 14 Abs. 4 Verf. Uri von 1984: “Der Kern der Grundrechte ist unantastbar). Besonders vorbildlich ist § 15 Abs. 1 KV Basel-Landschaft von 1984: “Die Grundrechte dürfen nur eingeschränkt werden, wenn und soweit ein überwiegendes öffentliches Interesse es rechtfertigt. Ihr Kern ist unantastbar”.
Denn damit kommt die “ratio” jeder Wesengehaltsklausel zum Ausdruck: Die bei der Ermittlung der Grenzen von Grundrechten unvermeidbare Güterabwägung bzw. Relativierung, soll eine absolute Grenze haben. Absolute und relative Wesensgehaltgarantien ringen im deutschen und europäischen Schrifttum miteinander (vgl. z. B. J.P. Müller, Elemente einer Schweizer Grundrechtstheorie, 1982, S. 141 ff.). § 15 Abs. 1 KV Basel-Landschaft ist ein guter Kompromiß geglückt.
Der Neunte Vorschlag lautet: Zusatz in Art. 42 (als Absatz 2): “Der Wesensgehalt von Menschenrechten und Grundfreiheiten bleibt auch in den von der Verfassung erlaubten Fällen der Beschränkung unantastbar.”
Ein Wort zu der Schrankenregelung im Entwurf Estlands. Er folgt dem Prinzip der (begrenzten) Einzelbeschränkung, differenziert bei jedem Grundrechte, und lehnt so eine “Generalschranke”, wie sie in einigen neueren Verfassungen vorkommt, aus guten Gründen ab. Die Frage bleibt aber, ob nicht bei so manchem Grundrecht nach dem Vorbild der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu verfahren ist. Sie kennt bei vielen Grundrechtseinschränkungen den Begriff: “in einer demokratischen Gesellschaft” notwendige Maßnahme. Den Inhalt dieses Begriffs hat der EGMR in Straßburg und auch die Kommission ebenda in reicher Kasuistik ausgeformt und im Interesse der Europabürger justitiabel gemacht. Die estnischen Gerichte könnten an diese Judikatur anknüpfen, wenn diese Schranke da und dort eingefügt würde (z. B. bei Art. 23 und Art. 31 am Ende). Der Verfassunggeber in Estland sollte ja bestrebt sein, seinen Grundrechtskatalog “EMRK-konform” auszugestalten – so wie sich selbst in der Schweiz seit kurzem der Begriff “Europaverträglichkeit” eingebürgert hat. Die Übernahme so mancher anderer Menschenrechtsbegriffe aus der EMRK hätte überhaupt den Vorteil, daß damit die Richter Estlands in Zukunft sehr rasch die ausgefeilte Judikatur Straßburgs rezipieren können (was noch genug Arbeit macht).
Eine letzte Anregung sei hier – mit Verlaub – im Rahmen der allgemeinen Grundrechtsfragen unterbreitet: im Blick auf die Erziehungsziele. Der Verfassungsentwurf beschäftigt sich mit dem Problemfeld der Erziehung in Art. 26. Dessen Grundlinien ist zuzustimmen. Nur bleibt ein Aspekt ausgeklammert, der nach dem Sturz des totalitären Regimes der UdSSR besonders wichtig erscheint, der Aspekt “Menschenrechte als Erziehungsziele“. Man braucht zwar nicht einer überreichen Normierung von Erziehungszielen schon in den Verfassungsurkunden das Wort zu reden, wie sie sich in dem Leit-Artikel 148 Weimarer Reichsverfassung von 1919 findet (so wichtig das Erziehungsziel “Toleranz” in offenen Gesellschaften ist, heute auch die Erziehung zur Verantwortung vor Natur und Umwelt). Art. 148 Abs. 1 WRV, der viel Ausstrahlung entfaltet hat, lautet:
“In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden.”
Neuere deutsche Landesverfassungen haben den Kanon der Erziehungsziele vorbildlich erweitert und verfeinert (zu den verfassungstheoretischen Zusammenhängen meine Schrift: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981). So heißt es in Art. 26 Verf. Bremen (1947) u. a.
“Erziehung zu einer Gemeinschaftsgesinnung, die auf der Achtung vor der Würde jedes Menschen… beruht”, “Erziehung zur Achtung vor der Wahrheit”, “Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker”.
und neu (seit 1987): “Erziehung zum Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt“.
Denkbar wäre, das Vorbild neuerer Verfassungen in Lateinamerika aufzugreifen, die UNESCO-Empfehlungen folgen. Art. 72 Verf. Guatemala von 1985 lautet:
“Die Erziehungsziele sind in erster Linie die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und die Kenntnisse über die Welt und die nationale und internationale Kultur. Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung, der Ausbildung und der systematischen Einführung in die Verfassung des Staates und die Menschenrechte.”
Art. 22 Abs. 3 Verf. Peru von 1979 verlangt:
“Der Unterricht über die Verfassung und die Menschenrechte ist in den zivilen und militärischen Bildungseinrichtungen und in allen Stufen obligatorisch.
Darum der zehnte Vorschlag: Einfügung eines neuen Absatzes in Art. 26:
“Zu den Erziehungszielen gehören die Grundwerte der Verfassung, insbesondere Menschenwürde, Menschenrechte, Toleranz und das Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt.”
2) Grundrechte – Besonderer Teil
Spezielle Grundrechtsfragen können hier nur sehr punktuell aufgelistet werden. Dies umso mehr als der jeweilige nationale Verfassunggeber vor Ort am besten beurteilen kann, was nötig ist. Immerhin gibt auch hier der transnationale, vor allem europäische Rechtsvergleich einige Hinweise: “Baumaterialien” liegen in reicher Fülle vor.
Der Verfassungsentwurf Estlands arbeitet im speziellen Teil der Grundrechte sehr sorgfältig. Doch seien einige Anregungen erlaubt:
(1) Art. 32 des Entwurfs lautet: “Work is the most dignified form of selfrealization”.
Es ist jedoch fraglich, ob eine moderne Verfassungsurkunde gut daran tut, sich auf den ja sehr umstrittenen Begriff der “Selbstverwirklichung”, die ja leicht in Ausformungen der “permissiven Gesellschaft” umschlagen kann, einzulassen. Wenn sie aber bei dem Begriff “Selbstverwirklichung bleiben will, so sollte vielleicht das Wort “most” gestrichen werden. Zu der sehr zu bejahenden Herausstellung der Arbeit im Bezug zur Menschenwürde, hat das deutsche Bundesverfassungsgericht einen treffenden Satz geprägt: “Die Arbeit als Beruf hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde” (BVerfGE 7, 377 (397)). So wäre eine Modifizierung denkbar:
Elfter Vorschlag zu Art. 32: “Work is a dignified form of self-realization”.
(2) Art. 18 des Entwurfs schützt die Gedanken-, Religions- und Gewissensfreiheit. Er orientiert sich dabei gut an Art. 9 EMRK.
Absatz 3 sollte aber nach diesem Vorbild angereichert werden, etwa im Sinne von: frei seine Religion auszuüben einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat (Zwölfter Vorschlag).
(3) Art. 24 des Entwurfs ist etwas zu eng formuliert. Art. 8 Abs. 1 EMRK könnte Formulierungshilfe leisten:
Dreizehnter Vorschlag: “Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens…”.
(Hinweis: Das Wort “Privat” ist eine geglückte Bezugnahme auf die reiche Literatur und Rechtsprechung zur “privacy”.)
(4) Der Aspekt der Staatsziele und Verfassungsaufträge (z.B. in bezug auf Arbeit, Kulturelles, Natur und Umwelt) ist im vorliegenden Entwurf wohl bewußt stark vernachlässigt: Estland scheint der klassische “Status negativus” der Grundrechte i.S. der Lehre von G. Jellinek vordringlich, das ist nach der Befreiung vom Sozialismus verständlich. Doch bleibt die Frage, ob nicht punktuell, bei einzelnen Grundrechten ein staatlicher Förderungsauftrag angemessen wäre, so etwa bei Art. 27 (Wissenschaft und Kunst). Viele neuere Verfassungen formulieren hier einen Auftrag des Staates, ergänzend zur Garantie der Autonomie. So lautet Art. 16 Abs. 1 Verf. Griechenland von 1975:
“Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei; deren Entwicklung und Förderung sind Verpflichtung des Staates”.
Art. 9 Abs. 1 Verf. Italien von 1947 sagt:
“Die Republik fördert die kulturelle Entwicklung sowie die wissenschaftliche und technische Forschung”.
Art. 44 Abs. 2 Verf. Spanien (1978) lautet:
“Die öffentliche Gewalt fördert die Wissenschaft sowie die wissenschaftliche und technische Forschung zum Wohl der Allgemeinheit”.
Vierzehnter Vorschlag daher: Zusatz zu Art. 27 (als Absatz 3):
“Der Staat fördert Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur“.
(5) Art. 37 Abs. 2 des Verfassungsentwurfs formuliert ein Widerstandsrecht. Das ist zu begrüßen und könnte auch die neue Lehre vom “zivilen Ungehorsam” etwa von J. Rawls umfassen. Vorsichtiger sollte jedoch eine Art Susidaritätsklausel eingebaut werden (analog Art. 20 Abs. 4 GG):
Fünfzehnter Vorschlag: “Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.”
Man könnte noch an andere Grundrechtsthemen denken: etwa an den Schutz der Behinderten (so einige neuer Verfassungen) – dies zu Art. 35.
Auch könnte der Umwelt-Artikel 36 angereichert werden um einen an den Staat gerichteten Auftrag, vgl. Art. 40 Abs. 1 Verfassungsentwurf des deutschen Landes Brandenburg vom 13. Dezember 1991: “Der Schutz der Natur, der Umwelt und der gewachsenen Kulturlandschaft als Grundlage gegenwärtigen und künftigen Lebens ist Pflicht des Landes und aller Menschen.”
Doch sei dieser kursorische Kommentar hier jetzt abgeschlossen. Künftigen Bedürfnissen nach weiterem personalen Grundrechtsschutz auf einzelnen Lebensfeldern kann durch die oben vorgeschlagene “Grundrechtsentwicklungsklausel” bzw. Art. 42 des Entwurfs Rechnung getragen werden. Die Prägnanz der Einzelgrundrechte darf nicht durch ein Übermaß an Detailregelungen beeinträchtigt werden.
III.
Organisatorischer Teil der Verfassung (Auswahl)
Auch der organisatorische Teil des Verfassungsentwurfs ist gut durchstrukturiert. Nur wenige Problemfelder wären ergänzend zu bedenken.
1) Keine ausdrückliche Übertragung staatlicher Souveränitätsrechte bzw. Kompetenzen auf internationale Organisationen?
Die Mitgliedsländer der EG haben in unterschiedlicher Weise in ihren Verfassungstexten Artikel geschaffen, die die Übertragung von Hoheitsrechten gestatten: im Blick auf EG und ähnliche supranationale Zusammenschlüsse ist dies unentbehrlich. So heißt es in Art. 28 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975):
“Um wichtigen nationalen Interessen zu dienen und um die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu fördern, ist durch Verträge oder Abkommen die Zuerkennung von verfassungsmäßigen Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen zulässig”.
(Vgl. auch Art. 24 Grundgesetz).
Art. 92 Verf. Niederlande (1983) sagt:
“Durch Vertrag oder kraft eines Vertrages können völkerrechtlichen Organisationen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsbefugnisse übertragen werden…”.
In dem Maße wie Estland, sei es mit anderen Baltenrepubliken oder mit skandinavischen Staaten, intensiv zusammenarbeiten oder gar der EG beitreten möchte, scheint mir ein solcher Verfassungs-Artikel unverzichtbar. Er könnte in Art. 3 als Abs. 4 plaziert werden oder in Art. 110 (Art. 111 Ziff. 3 ist zu blaß geraten.):
Sechzehnter Vorschlag: “Durch Verträge können auf zwischenstaatliche Einrichtungen oder internationale Organisationen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsbefugnisse Estlands übertragen werden. Vor allem ist die europäische Zusammenarbeit zu stärken.”
Das entspräche der für die Präambel oben vorgeschlagenen europäischen Dimension. Es mag für Estland wie für andere Nationen des jetzt befreiten Ostens Europas schwer sein, Teile ihrer mühsam genug unter vielen Leiden erkämpften nationalen Souveränität gleich wieder aufzugeben: Doch ist die Orientierung nach dem sich einigenden Europa hin ja gerade ein Lebensziel dieser Länder, vor allem Estlands.
2) Keine “Ewigkeitsklausel”? – Materielle Grenzen der Verfassungsänderung
Der Entwurf behandelt das Verfahren der Verfassungsänderung in Kapitel 9. Es fällt auf, daß er in Art. 153 zwar die Änderung besonders wichtiger Teile der Verfassung (Kap. I, III und XI) dem Referendum unterstellt. Damit wird zu Recht eine verfahrensmäßige Hürde errichtet. Viele neuere Verfassungen entscheiden sich aber auch für die Normierung von materiellen Grenzen der Verfassungsänderung. Epochemachend wirkt hier ganz früh § 112 Verf. Norwegen von 1814:
“Jedoch darf eine solche Änderung keineswegs den Grundsätzen dieser Verfassung widersprechen, sondern lediglich Modifikationen in einzelnen Bestimmungen betreffen, die nicht den Geist dieser Verfassung verändern, und es müssen zwei Drittel des Stortings einer solchen Änderung zustimmen.”
Weltweit ist immer wieder ein materieller Kerngehalt verfassungsstaatlicher Verfassungen, besonders nach der Überwindung totalitärer Systeme, auf diese Weise gesichert worden. Beispiele finden sich in Art. 79 Abs. 3 GG oder in Art. 288 Verf. Portugal von 1976/82. (“Die Verfassungsrevisionsgesetze haben folgendes unberührt zu lassen: a) die nationale Unabhängigkeit und Einheitlichkeit des Staates; b) die republikanische Regierungsform… d) die Rechte, Freiheiten und Garantien der Bürger… m) die Unabhängigkeit der Gerichte.”).
Zu solchen Bestimmungen ist europäische Verfassungsliteratur entstanden (vgl. nur J.P. Müller sowie P. Häberle, in: Festschrift für Haug, 1986, S. 195 ff. bzw. 81 ff.). Manche neueren Texte halten diese Linie: So der Verfassungsentwurf Albaniens von 1991 (Art. 134 Abs. 1: “The norms of the Constitution which envisage the republical form of government, acknowledgement of political pluralisme and the principle of the division of state power, can not be subject to any form of revision”. Art. 148 Verfassungsentwurf Rumänien vom 21.11.1991 bezieht seine verfassungsrechtliche Identitätsgarantie u.a. auf die republikanische Regierungsform, den politischen Pluralismus und die Grundrechte der Bürger.
Daher Siebzehnter Vorschlag: Neuer Absatz 2 zu Art. 153: “Die republikanische Regierungsform, der politische Pluralismus, Gewaltenteilung und der Kerngehalt der Grund- und Menschenrechte kann nicht Gegenstand von Verfassungsänderungen sein.”
3) Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit
Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat zunächst seit 1945 und dann wieder seit 1989 ihren weltweiten Siegeszug fortgesetzt, nachdem die USA pionierhaft schon 1787 ff., später 1920 Österreich und 1947 Italien sowie 1949 das deutsche Grundgesetz Beispiele dafür geschaffen haben. Alle dem Verf. bekannten Verfassungen bzw. Entwürfe der osteuropäischen Länder seit der “Wende” haben eine ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit (Ungarn, die CSFR (jedenfalls nach dem Entwurf ihres Bürgerforums von 1990), sogar Verf. Serbien von 1990 (Art. 125 ff.)). Der Verfassungsentwurf Estlands hat für Kapitel 13 die Überschrift “The Courts” gewählt, in Art. 139 Abs. 3 ist dann vom “State Court” die Rede. Sollte nicht besser von “Constitutional Court” gesprechen werden? (Achtzehnter Vorschlag).
Auch scheint mir ein Zuständigkeitskatalog wichtiger zu sein als der Katalog in Art. 140 über die Abberufung des Präsidenten (gute Vorbilder) finden sich in Art. 124 a Verfassungsentwurf des polnischen Sejm von 1991, in Art. 153 des polnischen Senats von 1991, Art. 225 Verf. Portugal und (nicht erschöpfend) Art. 93 Abs. 1 deutsches GG von 1949.
4) Der “Legal Chancellor” – seine Abberufbarkeit?
Der “Legal chancellor” ist eine Art Grundrechtsbeauftragter, wie er sich immer mehr in neueren Verfassungen findet (vgl. Art. 23 Verf. Portugal, Art. 54 Spanien, Art. 148 a ff. Österreichisches B-VerfG). Diese Einrichtung ist auch in der vom Verfassungsentwurf hier vorgeschlagenen Gestalt zu begrüssen. Auffällig ist jedoch die Möglichkeit der Abberufung in Art. 130 (“and recalled”) und in Art. 134. Die Frage sollte in ein spezielles Ausführungsgesetz verwiesen werden, dort könnten auch analog zur Möglichkeit von Anklageverfahren gegen Verfassungsrichter (oder Amtsenthebungsgründe) Regelungen getroffen werden (vgl. Art. 140 des Entwurfs).
Neunzehnter Vorschlag: Streichung der Wortpassage “and recalled” in Art. 129 und allgemeine Verweisung auf gesetzliche Ausführungsbestimmungen in Art. 134.
5) Kommunale Selbstverwaltung
Die kommunale Selbstverwaltung ist in Kapitel 14 geregelt. Dieser könnte noch etwas ausgebaut werden. Problemlösungsmaterial und denkbare Textelemente liefert die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung des Europarates (1985). Estland, das schon Mitglied des Europarates ist, sollte sich auch in seiner Verfassung von diesen bald gemeineuropäischen Prinzipien des Kommunalverfassungsrechts inspirieren lassen (Dokumentation in F.-L. Knemeyer (Hrsg.), Die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 1989). Erinnert sei vor allem an Aussagen wie: “in der Erwägung, daß die kommunalen Gebietskörperschaften eine der wesentlichen Grundlagen jeder demokratischen Staatsform sind” oder “die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben obliegt im allgemeinen vorzugsweise den Behörden, die den Bürgern am nächsten sind”. Art. 11 Abs. 4 Verf. Bayern (1946) formuliert treffend: “Die Selbstverwaltung in der Gemeinde dient dem Aufbau der Demokratie in Bayern von unten nach oben”. Art. 163 Abs. 1 Entwurf des polnischen Sejm von 1991 sagt anschaulich: “Local government shall be the basis form of the organization of public life in the commune.”
Zwanzigster Vorschlag: Ergänzung von Art. 144 des Entwurfs um einen neuen Absatz 2:
“Die kommunale Selbstverwaltung ist eine wesentliche Grundlage der Demokratie. Sie dient dem Staatsaufbau von unten nach oben und einer bürgernahen Verwaltung.”
Die eher technischen Bestimmungen des Art. 145 sollten erst nach dieser Grundsatz-Aussage folgen.
Sehr geehrter Herr Präsident, Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren:
Damit muß ich meine nur dreitägige Arbeit an Ihrem großen Entwurf abschließen, damit Sie meine “kleine Denkschrift” noch rechtzeitig erreicht. Sollten Sie später weitere Ergänzungen wünschen, schreibe ich solche gerne unter geringerem Zeitdruck. Ich danke für die Ehre, Ihnen diese Anregungen zu Ihrem großen Werk senden zu können. Möge es Ihnen gelingen.
Mit besten Empfehlungen
gez. Prof. Dr. Peter Häberle
(Bayreuth/St. Gallen)