An die
deutsche Botschaft Tallinn
über das
Auswärtige Amt
Betr.: Entwurf einer Verfassung der Republik Estland
Bezug: Telekopien vom 20. und 30.12.1991
– Pol 320.00 –
Anlg.: – 1 –
Zu dem Entwurf ist nach erster, aufgrund der gegebenen Umstände kursorischer Prüfung folgendes zu bemerken:
Der Entwurf erscheint insgesamt gut geeignet, als rechtliche Grundlage für ein Staatswesen zu dienen, das auf der Achtung der Grund- und Menschenrechte sowie den Prinzipien des Rechtsstaats, der Demokratie und der Gewaltenteilung aufbaut.
Zu einzelnen Bestimmungen des Entwurfs erscheinen folgende Bemerkungen veranlaßt:
Artikel 21
Es erscheint unklar, ob hier außer der Bildung von Gewerkschaften auch die Bildung von Arbeitgebervereinigungen garantiert wird. Unklar sind außerdem auch die Rechte der Arbeitgeber im Arbeitskampf (vgl. Artikel 32).
Artikel 36
Es erscheint unklar, was mit dem Recht auf “living environment” gewährleistet werden soll.
Artikel 37
Gegen die in Abs. 1 verankerte allgemeine Loyalitätspflicht bestehen schwerwiegende Bedenken. Einerseits ist selbstverständlich, daß jedermann der Verfassung und den Gesetzen gehorchen muß. Andererseits erscheint die Reichweite einer allgemeinen – wohl über den Gesetzesgehorsam hinausgehenden – Loyalitätspflicht unbestimmt; sie birgt die Gefahr in sich, daß der Staat unter – mißbräuchlichem – Hinweis auf diese Pflicht gegen unliebsame Bürger vorgeht.
Artikel 41
Diese Bestimmung erscheint selbstverständlich und könnte daher entfallen.
Artikel 44
Diese Bestimmung erscheint überflüssig und auch bedenklich. Die in ihr aufgeführten Artikel sehen bereits die Möglichkeit von Grundrechtseinschränkungen vor. Es bleibt unklar, weshalb hier zusätzlich eine weitere allgemeine Einschränkungsmöglichkeit für den Notstand und den Kriegszustand geschaffen werden soll.
Allgemeines zum Grundrechtsteil:
Es wäre wünschenswert, eine allgemeine Regelung über die Einschränkung von Grundrechten (entsprechend Artikel 19 Abs. 1, 2 GG) aufzunehmen. Darin sollte jedenfalls festgelegt werden, daß ein Gesetz, das Grundrechte einschränkt, allgemein sein muß (nicht nur für den Einzelfall gelten darf) und außerdem in keinem Falle ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt antasten darf.
Artikel 52
Bei den Wahlrechtsgrundsätzen sollte auch das Merkmal “frei” aufgenommen werden.
Artikel 56
Die Regelung, wonach ein Abgeordneter seinen Parlamentssitz verliert, wenn er Mitglied des Kabinetts wird, sollte überdacht werden. In einem parlamentarischen Regierungssystem ist es üblich, daß Abgeordnete, die zu Mitgliedern der Regierung gewählt werden, ihren Parlamentssitz behalten dürfen. Andernfalls wäre es für Abgeordnete mit einem hohen politischen Risiko verbunden, in die Regierung einzutreten, weil sie damit rechnen müßten, bei einem Ausscheiden aus der Regierung oder einem Regierungswechsel insgesamt nicht nur ihr Regierungsamt zu verlieren, sondern – da sie nicht (z. B. als Oppositionsführer) ins Parlament zurückkehren könnten – aus dem politischen Leben ganz oder weitgehend auszuscheiden.
Artikel 69
In Abs. 2 sollte der Mandatsverlust möglicherweise nicht an jeden Schuldspruch, sondern nur an eine Verurteilung zu einem bestimmten Strafmaß geknüpft werden.
Artikel 70
Die Aussage in Abs. 2, der Staatsälteste verkörpere die Einheit der Staatsgewalt, begegnet Bedenken. In einem System mit Gewaltenteilung verkörpert kein Staatsorgan die Einheit der Staatsgewalt; vielmehr ist die Staatsgewalt – wie auch im Entwurf der Verfassung Estlands vorgesehen – auf verschiedene Staatsorgane verteilt.
Artikel 74
Zu Nr. 2 vgl. Bemerkung zu Artikel 69 Abs. 2.
Artikel 77
Es ist unklar, welche Bedeutung die hier vorgesehene Entschließung des Parlaments haben soll; soll sie selbst eine Art Anklageschrift sein, oder soll sie nur – nach Art einer Immunitätsaufhebung – die Erhebung der Anklage durch die zuständigen Justizorgane ermöglichen?
Artikel 81
Die in dieser Bestimmung vorgesehenen Fristen für die Regierungsbildung erscheinen zu kurz.
Artikel 85, 86
Hier wird für den Regierungssturz ein einfaches Mißtrauensvotum vorgesehen. Das kann zu einer erheblichen Instabilität der Regierung führen, weil sie auch durch Mehrheiten im Parlament gestürzt werden kann, die nicht bereit sind, zusammenzuarbeiten und durch eine neue Regierungsbildung Verantwortung zu übernehmen. Besser erscheint es, entsprechend den Regelungen des Grundgesetzes ein konstruktives Mißtrauensvotum vorzusehen, wonach die Regierung nur gestürzt werden kann, wenn gleichzeitig eine neue Regierung ins Amt eingesetzt wird.
Artikel 92
Vergleiche Bemerkung zu Artikel 77.
Artikel 121
Diese Bestimmung ist zu knapp. Regelungen über die Rechte des Parlaments, des Staatsältesten, der Regierung und des Oberkommandierenden während des Notstandes und während des Kriegszustandes müssen in der Verfassung getroffen werden und dürfen nicht nur einem (einfachen) Gesetz überlassen bleiben.
Artikel 134
Vergleiche Bemerkung zu Artikel 77. Auch hier ist unklar, welche Bedeutung der Entscheidung des Parlaments zukommen soll.
Artikel 143
Vergleiche Bemerkung zu Artikel 134.
Artikel 150
Verfassungsänderungen werden hier sehr stark erschwert. Insbesondere erscheint ein Quorum von 4/5 der gesetzlichen Mitgliederzahl des Parlaments als sehr hoch angesetzt.
Eine englische Fassung dieser Stellungnahme ist in der Anlage beigefügt.
Im Auftrag
Dr. Weis